ERP im Mittelstand: Erwartung und Realität

Die Zeiten, in denen ERP-Systeme ausschließlich großen Unternehmen mit umfangreichen IT-Abteilungen vorbehalten waren, sind vorbei. Mittlerweile hat das Prinzip ERP Einzug auch in kleinere Unternehmen gehalten. Die Anzahl der Erfolgsgeschichten, mal abgesehen von den einschlägigen Case-Studies der Hersteller, halten sich jedoch in Grenzen – insbesondere, wenn man sich mal unter vier Augen mit den Verantwortlichen in den Unternehmen unterhält. Woran liegt das? Was sind die typischen Probleme, die dazu führen, dass das Thema ERP im Mittelstand eher Frust als Lust auslöst? Die Probleme sind vielschichtig, lassen sich aber in zwei grundsätzliche Gruppen einteilen – Eine falsche Erwartungshaltung und methodische Fehler bei der Implementierung.

Ich möchte hier auf die erste Gruppe der Probleme eingehen. Die falsche Erwartungshaltung ist durch die ERP-Hersteller selbst getrieben. Nachdem die Großunternehmen weitgehend abgearbeitet und aus ERP-Sicht ausgeschlachtet waren, haben sich die ERP Hersteller, soweit nicht schon geschehen, dem Mittelstand zugewandt – allen voran der Branchenprimus SAP. Schließlich musste man den Analysten ja auch weiterhin Wachstumspotenziale präsentieren. Also wurden zuerst die Berater aufs Korn genommen, die die Projekte durch schlechte Leistung und unnötiges Aufblähen des Projektumfanges (neudeutsch „Scope“) unnötig verteuern würden. Als Antwort wurden den potenziellen Kunden fortan standardisierte Lösungen, verbunden mit einem straffen Vorgehen präsentiert, die selbst vermeintlich aufwendige Lösungen wie SAP auf einmal bei der mittelständischen Kundschaft in den Bereich des Möglichen rutschen ließ. Es war zwar vom Budget her knapp, aber man bekam es durch die Tür.

Der mittelständische Kunde zeichnet sich seit jeher durch ausgeprägtes Kostenbewusstsein aus – eine der Stärken des Mittelstandes. Ganz klar, dass der Ansatz hier auf fruchtbaren Boden fällt. Den anderen ERP-Häusern blieb also notgedrungen nichts anderes übrig, als sich auf die Preisschlacht einzulassen. Ein ungenannter Klient von mir erzählte mir einmal, dass er drei Angebote von drei unterschiedlichen Softwarehäusern vorliegen hätte, die insgesamt um 5% der Projektsumme auseinander lägen. Halt – spätestens hier sollte man sich fragen, ob da noch alles mit rechten Dingen zugeht. Wir reden immerhin über komplexe Vorhaben mit einem signifikanten Anteil an notwendigen Verhaltensänderungen der Organisation. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Abschätzung des notwendigen Aufwandes in solchen Umgebungen vor Beginn des Projektes einer größeren Schwankung unterliegt … menschliches Verhalten lässt sich schließlich nicht einfach funktional beschreiben. Hier spielen viele nicht messbare und kulturelle Faktoren eine Rolle. Bei einer derart geringen Abweichung der Schätzung von unabhängigen Stellen liegt also der Verdacht nahe, dass es hier keine realistische Schätzung des zu erwartenden Aufwandes gegeben hat, sondern das hier andere, rein preispolitische Erwägungen, eine Rolle gespielt haben.

Das Ergebnis ist vorhersehbar. Relativ schnell zeigt sich, dass das Projekt zu den angegebenen Konditionen nicht leistbar ist. Der Kunde, der sich durch den vereinbarten Festpreis auf der sicheren Seite sieht, wird auf einmal mit etwas konfrontiert, was man in der Baubranche als „Nachtragsmanagement“ bezeichnet. „Ach, sie wollten Steckdosen in diesem Raum haben? Das war im Standard nicht vereinbart. Können wir selbstverständlich machen, wir müssen da nur kurz einen Nachtrag vereinbaren!“ Und notwendige Nachträge, die im viel gepriesenen „Standard“ nicht enthalten sind, gibt es viele. Zum Beispiel die Stammdaten, die nicht den notwendigen Qualitätsanforderungen entsprechen und die im Rahmen des Projektes gesäubert werden müssen. Die Preiskonditionen, die nicht dem Standard entsprechen und aus vertrieblicher Sicht nicht einfach den Anforderungen der Software angepasst werden können. Die notwendigen Steuerungs-Berichte der Geschäftsführung, die zwar so ähnlich, aber leider nicht wirklich brauchbar im Standard enthalten sind. Gewisse prozessuale Abläufe, die aus fertigungstechnischen Gründen genau so einzuhalten sind, in der Software so aber nicht abgebildet werden können. Der Änderungsfrust der Anwender, der intensivere Schulungsmaßnahmen erfordert als ursprünglich vereinbart. usw. usf.

Die Liste ist lang und ergiebig.

Man kann hier nur intensiv warnen: ERP-Projekte sind in den seltensten Fällen einfach und gerade heraus. Viele Stolperfallen und Design-Entscheidungen entstehen im Verlauf der Implementierung und eine entsprechende Unsicherheit ist als normal anzusehen. Insbesondere der Faktor Mensch – der, am Rande bemerkt, naturgemäß eines der Schlüsselelemente eines jeden Organisationsprojektes darstellt – ist nur sehr schwer im Vorfeld zu kalkulieren. Und um Organisationsprojekte handelt es sich hier. Der Erfolg einer jeden Implementierung ergibt sich aus Veränderungen in der Art und Weise, wie die Prozesse durchlaufen werden. Die Technologie stellt nur den „Enabler“ dar, also das Element, das Veränderungen überhaupt ermöglicht.

Hier sei auf ein weiteres Element falscher Erwartungshaltung hingewiesen: Die Tatsache, das ein mittelständisches Unternehmen weniger Umsatz macht als ein Konzern, bedeutet nicht, dass die Prozesse weniger komplex sind, zumindest nicht grundsätzlich. Und die Komplexität der Prozesse treibt den Aufwand der Projekte. Daraus folgt, dass der Projektaufwand sich nicht linear mit dem Umfang (Umsatz) des Geschäftes entwickelt. Positiv macht sich allerdings bemerkbar, dass bei kleineren Unternehmen die Entscheidungsprozesse in der Regel etwas einfacher sind, was den Projektaufwand wiederum verringert.

Was bedeutet das alles zusammen gefasst? Hinterfragen Sie die Angebote der befragten ERP-Anbieter und Systemhäuser! Seien sie gefasst auf Unwägbarkeiten im Projekt (wenn alles genau berechenbar wäre, wäre es schließlich kein Projekt, sondern ein Prozess). Seien Sie nicht überrascht, wenn das Projekt schlussendlich erheblich teurer wird, als ursprünglich angeboten (wenn der Vertrieb des Systemhauses Ihnen von vorne herein die richtige Zahl genannt hätte, hätten sie ihn wahrscheinlich herausgeschmissen). Stellen Sie sicher, dass hinreichend auf Ihre spezifischen Anforderungen eingegangen wird (machen sie dabei aber nicht den Fehler, alles wie heute abbilden zu wollen). Eventuell sollten sie sich die Unterstützung eines unabhängigen Spezialisten suchen, der Sie im Auswahlprozess unterstützt – das kann Sie vor unangenehmen Überraschungen schützen und Fehler gleich zu Anfang vermeiden.

Die methodischen Fehler bei der Implementierung werde ich in einem Folgeartikel besprechen. Auch hier gibt es genügend Fallstricke, die aus der ERP-Lust eher Frust werden lassen.

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